Das Geheimnis
Sonnenstrahlen glänzten schräg durch winzige Ritzen und Fugen in der Wand der Hütte, und von der Lagune her erklang das Geschrei der im Wasser planschenden Kinder. Nach einer Weile schlug Rona ta Inga die Augen auf. Er hatte länger als üblich geschlafen; normalerweise war er um diese Zeit bereits auf den Beinen. Er streckte sich, faltete die Hände hinterm Kopf zusammen und starrte gedankenverloren an die Decke. Tatsächlich war er schon vor einiger Zeit erwacht, dann jedoch wieder eingedöst – was neuerdings immer häufiger geschah. Inga runzelte die Stirn und setzte sich ruckartig auf. Was bedeutete das? Handelte es sich um ein Zeichen? Vielleicht sollte er sich an Takti-Tai wenden… Aber die ganze Sache erschien ihm so lächerlich. Dafür, daß er länger geschlafen hatte, gab es doch ganz einfache Erklärungen: Es gefiel ihm, noch eine Zeitlang liegenzubleiben und zu träumen.
Auf der Matte neben ihm – dort, wo Mai-Mio gelegen hatte – sah er einige zerrissene Blüten. Inga griff nach ihnen und legte sie in das Fach, das seine wenigen Besitztümer enthielt. Ein bezauberndes Wesen, diese Mai-Mio. Sie lachte nicht mehr und nicht weniger als die anderen Mädchen. Ihre Augen wiesen keine Besonderheiten auf, ebensowenig ihr Mund. Doch ihr sonderbares und faszinierendes Gebaren machte sie zu einem einzigartigen Geschöpf – jener einen Mai-Mio im ganzen Universum. Inga hatte viele Mädchen kennengelernt. Jedes von ihnen unterschied sich von den anderen, doch Mai-Mio war erst kürzlich zur Frau geworden – selbst jetzt noch konnte man sie aus der Ferne mit einem Jungen verwechseln –, wohingegen Inga mindestens fünf oder sechs Sommer älter war. Er wußte es nicht ganz genau. Aber es spielte auch keine Rolle. Überhaupt keine, bekräftigte er in Gedanken. Dies war sein Dorf, seine Insel. Er wollte sie nicht verlassen. Niemals!
Die Kinder kehrten von der Lagune zurück und liefen über den Strand. Einige von ihnen stürmten in Ronas Hütte, schwangen sich an den Pfählen hin und her und lachten und sangen wortlos. Die Wände erzitterten, und der Lärm verärgerte ihn. Er stieß einen wütenden Schrei aus, woraufhin die Kinder sofort still wurden. Erschrocken und verwundert hielten sie inne, gingen fort und blickten dabei immer wieder zu ihm zurück.
Inga runzelte die Stirn. Zum zweitenmal an diesem Morgen entstand ein sonderbares Gefühl in ihm. Er mochte in einen wenig beneidenswerten Ruf geraten, wenn er auf diese Weise weitermachte. Was geschah nur mit ihm? Er unterschied sich doch nicht vom gestrigen Inga – abgesehen von der Tatsache, daß er um einen Tag gealtert war.
Er trat auf die Veranda vor seiner Hütte und streckte sich im Sonnenschein. Links und rechts standen vierzig bis fünfzig weitere Hütten, die der seinen ähnelten, und zwischen ihnen wuchsen Bäume. Weiter vorn glänzte das blaue Wasser der Lagune im hellen Licht der Sonne. Inga sprang zu Boden, wanderte in Richtung der Lagune, schwamm und tauchte einige Male so tief, daß er die Kieselsteine und Pflanzen am Grunde berühren konnte. Als er wieder an die Oberfläche kam, fühlte er sich entspannt und ausgeglichen, empfand er sich erneut als er selbst: als der Rona ta Inga, der er immer gewesen war und immer sein würde!
Bald darauf setzte er sich auf seine Veranda, aß die Reste der Mahlzeit vom vergangenen Abend – Obst und gebratenen Fisch – und dachte darüber nach, was er mit diesem Tag anfangen sollte. Es gab keine dringenden Probleme zu lösen, keine besonderen Pflichten zu erfüllen, nichts, was ihn irgendwie belastet hätte. Er konnte sich den jungen Burschen anschließen, die in den Wald zogen und hofften, dort Vögel und Federvieh zu fangen. Es war ihm auch möglich, sich die Zeit damit zu vertreiben, indem er eine Brosche aus Muscheln und Goana-Nüssen anfertigte – ein Geschenk für Mai-Mio. Oder er blieb müßig und schwatzte mit den anderen. Oder er besuchte seinen besten Freund, Takti-Tai, der gerade ein Boot baute. Oder er ging fischen. Nach einer Weile entschied sich Inga für letzteres und stand auf. Er schlenderte über den Strand und näherte sich seinem Kanu. Er überprüfte seine Ausrüstung, schob es ins Wasser und paddelte durch die Lagune, bis er die Öffnung im Riff erreichte. Wie immer wehte der Wind nach Westen. Als Inga die Lagune verließ, wandte er das Gesicht kurz von der Brise ab, ließ einen fast verstohlen wirkenden Blick über die Wellen schweifen und ruderte nach Osten.
Innerhalb einer Stunde fing er sechs prächtige Fische undpaddelte am Riff entlang auf die Öffnung zu. Als er in die Lagune zurückkehrte, schwammen dort alle Bewohner des Dorfes: Mädchen, junge Männer, die Kinder. Mai-Mio näherte sich dem Kanu, hielt sich am Dollbord fest und sah lächelnd zu ihm hoch. Wasserperlen schimmerten auf ihren Wangen. »Rona ta Inga! Hast du Fische gefangen? Oder hattest du Pech?«
»Sieh nur!«
Sie beugte den Kopf. »Fünf – nein, sechs! Und alles große Silberflossen! Dann habe ich dir also Glück gebracht! Darf ich öfter in deiner Hütte schlafen?«
»Solange es mir am nächsten Tag gelingt, Fische zu fangen.« Mai-Mio ließ sich in die Fluten zurückfallen, bespritzte ihn und tauchte. Das Wasser war kristallklar, und Inga konnte deutlich sehen, wie die junge Frau dicht über den Grund hinwegglitt. Er schob das Kanu auf den Strand, wickelte die Fische in breite Sipi-Blätter und verstaute sie in einer kühlen
Zisterne. Dann lief er zur Lagune und gesellte sich den anderen hinzu.
Später saß er mit Mai-Mio im Schatten. Sie flocht ein Schmuckseil aus farbigem Bast, das sie später zu einem Korb binden würde, und Inga lehnte sich zurück und blickte übers Wasser. Die ganze Zeit über erzählte Mai-Mio – von dem neuen Lied Ama ta Laiaus, von den seltsamen Fischen, die sie während des Tauchens gesehen hatte, von den Veränderungen im Wesen Takti-Tais, die mit dem Beginn des Bootsbaus einhergingen.
Inga brummte geistesabwesend, gab jedoch keine Antwort.
»Wir haben eine Gruppe gebildet«, sagte Mai-Mio. »Es gehören ihr insgesamt sechs von uns an: Ipa, Tuiti, Hali-Sai-Iano, Zoma, Oiu-Ngo und ich. Wir schworen, die Insel niemals zu verlassen. Nie, nie, nie. Hier sind wir glücklich. Auf keinen Fall segeln wir nach Westen – nein, das kommt nicht in Frage. Worin auch immer das Geheimnis bestehen mag – wir wollen es nicht lüften.«
Inga lächelte, und sein sehnsüchtiger Blick reichte in die Ferne. »Der Schwur, den ihr abgelegt habt, scheint mir sehr weise zu sein.«
Mai-Mio legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum schließt du dich nicht unserer Gruppe an? Wir sind zwar sechs Frauen, aber… Nun, ein Eid ist ein Eid.«
»Das stimmt.«
»Möchtest du nach Westen segeln?«
»Nein.«
Aufgeregt erhob sich Mai-Mio. »Ich gebe den anderen Bescheid. Wenn wir alle zusammen sind, wiederholen wir den Schwur: Niemals wollen wir die Insel verlassen! Und das, obwohl du doch der älteste Mann des Dorfes bist!«
»Takti-Tai ist noch älter«, sagte Inga.
»Aber Takti-Tai baut sein Boot! Und damit zählt er praktisch nicht mehr!«
»Vai-Ona ist ebenfalls alt. Fast so alt wie ich.«
»Soll ich dir was verraten? Wenn sich Vai-Ona aufmacht, um Fische zu fangen, sieht er immer nach Westen. Und wird nachdenklich.«
»Ab und zu sind wir das alle.«
»Ich nicht!« Mai-Mio breitete die Arme aus. »Nein, ich nicht
– und ebensowenig die anderen Mitglieder unserer Gruppe! Nie, nie, nie! Niemals verlassen wir die Insel! So lautete unser Schwur!« Sie bückte sich, strich mit den Fingerkuppen über die Wange Ingas, lief fort und gesellte sich einigen Freunden hinzu, die an einem Korb mit Obst saßen.
Fünf Minuten lang rührte sich Inga nicht von der Stelle. Dann schüttelte er jäh den Kopf, stand auf, wanderte über den Strand und lenkte seine Schritte in Richtung der Plattform, auf der Takti-Tai an seinem Boot arbeitete. Es handelte sich dabei um einen Katamaran mit breiten Rümpfen, einem kleinen Unterstand aus Weidengeflecht, der mit Sipi-Blättern gedeckt war, und einem dicken Mast. Schweigend ging Inga Takti-Tai zur Hand und half ihm dabei, mit scharfen Muscheln einen langen harten Pa-siao-tui-Stamm zurechtzuschneiden. Nach einer Weile lehnte sich Inga zurück, legte seine Schale beiseite und sagte: »Vor langer Zeit gab es vier von uns: du, ich, Akara und Zan. Weißt du noch?«
Takti-Tai nickte.
»Wir schworen, niemals die Insel zu verlassen. Wir schworen, niemals schwach zu werden, und wir besiegelten diesen Eid mit unserem Blut. Auf keinen Fall wollten wir nach Westen segeln.«
»Ich erinnere mich.« »Und doch wirst du dich bald auf den Weg machen«, fügte Inga hinzu. »Dann bin ich der letzte unserer Gruppe.«
Takti-Tai ließ seine Muschel sinken, blickte Inga an und schien zu einer Erwiderung ansetzen zu wollen. Dann aber beugte er sich wieder zum Mast vor. Inga wartete noch einige Zeit, und dann kehrte er über den Strand zu seiner Hütte zurück. Dort setzte er sich auf die Veranda und begann damit, die Brosche anzufertigen, die er Mai-Mio zu schenken gedachte.
Kurz darauf kam ein junger Mann herbei und hockte sich zu ihm. Inga hätte lieber auf Gesellschaft verzichtet, und er war so sehr in Gedanken versunken, daß er den Besucher zunächst gar nicht bemerkte. »Gib mir einen Rat, Rona ta Inga! Du bist der älteste Mann im Dorf und sehr weise.« Inga hob die Augenbrauen, runzelte die Stirn und schwieg.
»Ich liebe Hali Sai Iano, und ich begehre sie sehr. Doch sie lacht mich nur aus, geht mir aus dem Weg und wirft sich Hopu an den Hals. Was soll ich tun?«
»Dein Problem ist recht einfach zu lösen«, sagte Inga. »Hali fühlt sich mehr zu Hopu hingezogen. Wähle ein anderes Mädchen. Wie wäre es mit Talau Io? Sie ist hübsch und zärtlich, und ich glaube, sie mag dich.«
Der junge Mann seufzte. »Nun gut. Ich werde deinen Vorschlag annehmen. Schließlich sind alle Mädchen gleich.« Er stand auf, ging fort und bemerkte nicht den finsteren Blick, den Inga ihm nachwarf. Warum fragen sie mich überhaupt um Rat? überlegte Rona ta Inga. Ich bin doch nur zwei oder drei – höchstens vier oder fünf – Sommer älter als sie. Man könnte glauben, sie hielten mich für den Quell und Born aller Weisheit!
Am Abend kam ein Kind zur Welt. Die Mutter hieß Omei Ni Io, und fast einen Sommer lang hatte sie in der Hütte Ingas geschlafen. Da das Kind ein Junge war, nannte sie es Inga ta Omei. Es wurde eine Namensfeier veranstaltet, die Inga leitete. Gesang und Tanz dauerten bis spät in die Nacht, und Inga hätte sich längst in seine Hütte zurückgezogen, wenn es nicht um seinen Sohn gegangen wäre, der seinen Namen trug. Er hatte bereits an vielen Namensfeiern teilgenommen.
Eine Woche später segelte Takti-Tai nach Westen, und bevor er aufbrach, kam es zu einer ganz besonderen Zeremonie. Alle Bewohner des Dorfes begaben sich an den Strand, berührten den Rumpf des Bootes und segneten ihn mit Wasser. Tränen strömten, und auch Takti-Tai selbst weinte. Zum letztenmal sah er über die Lagune und blickte die Männer, Frauen und Kinder an, die er nun für immer verließ. Dann drehte er sich um, und auf sein Zeichen hin schoben die jungen Männer das Boot ins Wasser und zogen es durch die Lagune und dieÖffnung im Riff. Takti-Tai zurrte die Seile fest und setzte das Segel, das der Wind sofort aufblähte. Der Katamaran glitt nach Westen. Takti-Tai stand auf der Plattform und hob noch einmal kurz die Hand zum Abschied. Die Leute auf dem Strand winkten ebenfalls. Das Boot segelte in den Nachmittag, und als die Sonne unterging, war es nicht mehr zu sehen.
Während der abendlichen Mahlzeit wurde nur wenig gesprochen, und die meisten starrten schweigend ins Feuer. Schließlich sprang Mai-Mio auf. »Ich nicht!« rief sie. »Nein, ich nicht – nie, nie, nie!«
»Und ich auch nicht!« ließ sich Ama ta Lalau vernehmen – von allen jungen Männern war er der begabteste Musiker. Er griff nach seiner Gitarre, die er aus dem Stamm eines SoaTupelo-Baums gefertigt hatte, zupfte an den Saiten und begann zu singen.
Inga sah still zu. Er war nun der Älteste auf der ganzen Insel, und es schien ihm, als behandelten ihn die anderen mit neuem Respekt. Lächerlich! Was für ein Unsinn! Der Altersunterschied spielte doch kaum eine Rolle! Doch er bemerkte, daß Mai-Mio dem jungen Ama ta Lalau besondere Aufmerksamkeit schenkte, und der Musiker reagierte mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit auf ihre Annäherungsversuche. Inga spürte, wie eine gewisse Melancholie in ihm entstand, und nach einer Weile zog er sich in seine Hütte zurück. In jener Nacht kam Mai-Mio zum erstenmal seit Wochen nicht zu ihm. Inga zuckte nur mit den Schultern und sagte sich, daß alle Mädchen gleich waren.
Am nächsten Morgen wanderte er über den Strand und näherte sich der Plattform, auf der Takti-Tai sein Boot gebaut hatte. Alles war säuberlich aufgeräumt, und die Werkzeuge befanden sich in einem nahen Schuppen. Im Wald jenseits davon wuchsen prächtige Makara-Bäume, und aus ihren Stämmen wurden die festesten Rümpfe hergestellt.
Inga wandte sich ab. Mit seinem Kanu brach er auf, um Fische zu fangen, und als er die Lagune verließ, sah er nach Westen. Dort bot sich ihm kein besonderer Anblick dar: Der leere Horizont war ebenso beschaffen wie der im Osten, Norden und Süden. Und doch gab es einen Unterschied: Im Westen verbarg sich das Geheimnis. Während des ganzen Tages verspürte Inga ein unerklärliches Unbehagen. Beim abendlichen Essen musterte er die anderen Bewohner des Dorfes, aber es fehlten die Gesichter seiner besten Freunde. Irgendwann hatten sie alle Boote gebaut, um nach Westen zu segeln – und das Geheimnis in Erfahrung zu bringen.
Ohne eine bewußte Entscheidung zu treffen, machte sich Inga am folgenden Morgen daran, die Werkzeuge zu schärfen, und er fällte zwei geeignete Makara-Bäume. Er redete sich ein, daß es ihm eigentlich gar nicht darum ging, ein Boot zu bauen: Es konnte sicher nicht schaden, Holz vorrätig zu haben.
Dennoch begann er am nächsten Morgen damit, die Stämme zu glätten und auf die richtige Länge zuzuschneiden, und anschließend bat er die jungen Männer darum, ihm dabei zu helfen, sie auf die Plattform zu bringen. Niemand schien überrascht zu sein. Alle wußten, daß Rona ta Inga damit begonnen hatte, sein Boot zu bauen. Mai-Mio war nun eine direkte Beziehung zu Ama ta Lalau eingegangen, und während Inga an seinem Boot arbeitete, beobachtete er, wie sie zusammen im Wasser schwammen und planschten – und er empfand dabei nicht einmal einen Hauch von Schwermut. Die Aussicht darauf, bald seine alten Freunde wiederzusehen, gefiel ihm viel besser – die jungen Männer und Frauen, die er seit seiner Kindheit kennengelernt hatte, jene Gefährten, die längst aufgebrochen und dem verlockenden Ruf des Geheimnisses gefolgt waren. Seine Sehnsucht nach ihnen wurde immer intensiver. Mit großer Sorgfalt behandelte er die beiden Stämme, schnitt sie weiter zu, um sie anschließend mit Feuer zu härten. Dann machte er die Plattform an ihnen fest, flocht den Bastunterstand und deckte ihn mit breiten Blättern, um vor dem Regen geschützt zu sein. Aus einem glatten Pa-siao-tui-Schaft stellte er einen Mast her und befestigte ihn an der richtigen Stelle. Später sammelte er Weidenruten, knüpfte sie zusammen und stellte auf diese Weise ein großes Segel her, das er aushängte, damit Wind und Wetter ihm die angemessene Festigkeit verleihen konnten. Er legte Vorräte aus Nüssen, Dörrobst und geräuchertem Fisch an, den er in Sipi-Blätter wickelte. Er füllte Dickfischblasen mit Trinkwasser. Wie lange mochte die Reise nach Westen dauern? Niemand wußte eine Antwort auf diese Frage. Inga hielt es für ratsam, nicht zu wenige Vorräte mitzunehmen: Sobald er die Reise einmal begonnen hatte, konnte er nicht mehr zurückkehren.
Eines Tages dann war er fertig – an einem Tag, der sich kaum von den vielen anderen seines langen Lebens unterschied. Die Sonne schien hell und warm, und das Wasser der Lagune glitzerte und rollte in kleinen Wellen an den weißen Strand. In Rona ta Ingas Hals entstand ein Kloß, und er war so heiser, daß er kaum ein Wort hervorbringen konnte. Die jungen Leute kamen und bezogen am Strand Aufstellung. Nacheinander segneten sie das Boot mit Wasser. Inga sah in jedes Gesicht, ließ seinen Blick dann über die Hütten schweifen, an den Bäumen entlang, betrachtete noch ein letztes Mal das, was er noch vor kurzer Zeit so sehr geliebt hatte. Jetzt aber erschien ihm diese Welt fast schon fremd. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er hob die Hand und wandte sich um. Unmittelbar darauf spürte er, wie das Boot ins Wasser gelassen wurde, und die Schwimmer schoben es durch die Öffnung im Riff aufs offene Meer. Noch einmal drehte er sich um und sah zum Dorf zurück, kämpfte gegen die jähe Versuchung an, vom Katamaran zu springen und zu den jungen Leuten am Strand zurückzukehren. Er setzte das Segel, und der Wind blähte es sofort auf. Sein Boot wurde schneller, glitt nach Westen, fort vom Riff, und die Insel blieb rasch hinter ihm zurück.
Über die blauen Wellen mit den weißen Schaumkronen hinweg – und das Wasser gurgelte an den beiden Rümpfen entlang und sang eine ganz besondere Melodie. Der Bug hob und senkte sich. Die Stunden verstrichen, und der Nachmittag trübte sich und gewann einen goldenen Ton. Der Schein der untergehenden Sonne setzte den Horizont in Brand, und bald darauf verblaßte auch jenes Schimmern. Am Himmel zeigten sich die ersten Sterne, und Inga saß schweigend am Ruder und hielt das Segel voll in den Wind. Um Mitternacht holte er es ein, ließ das Boot treiben und legte sich schlafen.
Am Morgen war er völlig allein. Wohin er auch sah: Überall erstreckte sich der endlose Ozean. Erneut hob er das Segel und setzte die Reise nach Westen fort. So verging dieser Tag, und auch der nächste und übernächste. Inga war froh, daß er so viele Vorräte an Bord genommen hatte. Am sechsten Tag stellte er fest, daß der Wind kühler wurde. Am achten verbarg sich die Sonne hinter einer seltsam dichten Wolkendecke. Aus dem Blau des Meeres wurde ein schaumiges Grau, das kurze Zeit später eine grünliche Färbung gewann, und das Wasser war nun ziemlich kalt. Der Wind blies immer heftiger und zerrte und riß an dem Bastsegel, und Inga duckte sich in den Unterstand, um der Gischt zu entgehen. Am Morgen des neunten Tages glaubte er in der Ferne einige dunkle Konturen auszumachen, und bis zum Mittag wurde daraus eine hohe Klippenwand. Die Brandung donnerte an einzelne Felsen und flutete über groben Kies. Einige Stunden später schob Inga sein Boot auf den Strand und watete aus dem Wasser. Er zitterte und fröstelte in der Kühle und versuchte sich über seine Lage klarzuwerden. Bis auf einige wenige Möwen war weit und breit nichts Lebendiges zu sehen. Etwa hundert Meter weiter rechts machte er die geborstenen Rümpfe eines anderen Katamarans aus, und jenseits davon lag ein Haufen aus Holz und zerrissenem Weidengeflecht, bei dem es sich einst um ein weiteres Boot gehandelt haben mochte.
Inga trug die ihm noch verbliebenen Vorräte an Land, band sie zusammen und folgte anschließend einem schmalen Pfad durch die Klippenbarriere. Nach einer Weile gelangte er in einen Bereich aus niedrigen graugrünen Dünen. Zwei oder drei Meilen weiter landeinwärts erhoben sich kleine Hügel, und in jene Richtung schien der Weg zu führen.
Inga blickte nach rechts und links – und erneut sah er nur Möwen und keine anderen lebenden Wesen. Er schulterte sein Bündel und folgte dem Verlauf des Pfades.
In der Nähe der Hügel fand er eine Hütte aus Torf und Stein, und daneben erstreckte sich ein kleiner Garten. Ein Mann und eine Frau arbeiteten dort. Inga wagte sich noch etwas näher heran und fragte sich, mit was für Geschöpfen er es zu tun haben mochte. Sie ähnelten Menschen, hatten zwei Arme, zwei Beine und ein Gesicht – aber wie dünn und ausgemergelt sie doch wirkten! Die Haut war faltig und runzlig, und die Arbeit schien ihnen große Mühe zu bereiten! Rasch wanderte er weiter, und offenbar bemerkten ihn die beiden Gestalten nicht.
Inga schritt nun rascher aus, denn es dauerte nicht mehr lange, bis die Nacht begann. Der Pfad führte durch ein Tal, in dem verkrüppelte Eichen und schlicht aussehende, purpurgrüne Büsche wuchsen. Am Hang entlang setzte er sich fort, durch eine steinerne Lücke, in der der Wind zischte und pfiff. Inga betrat den granitenen Spalt und sah in ein zweites Tal. Sein Blick fiel auf niedrige Bäume und kleine Bereiche aus bestelltem Land, und er bemerkte auch eine Ansammlung von Hütten. Langsam ging er darauf zu. Ein Mann, der auf einem nahen Acker arbeitete, hob den Kopf. Inga blieb stehen, denn die Gestalt erschien ihm vertraut. War das nicht Akara ta Oma, der vor zehn oder zwölf Sommern losgesegelt war? Unmöglich! Dieser Mann war dick und fast kahlköpfig, und die Wangen wirkten aufgedunsen. Nein, das konnte nicht der schlanke und muskulöse Akara ta Oma sein! Hastig wandte sich Inga ab, und kurz darauf erreichte er das Dorf. Vor einer nahen Hütte stand jemand, den er sofort wiedererkannte. »Takti-Tai!« rief er freudig.
Takti-Tai nickte. »Rona ta Inga. Ich wußte, daß du bald kommen würdest.«
»Ich bin ja so froh, dich zu sehen! Komm, verlassen wir diesen gräßlichen Ort! Laß uns zur Insel zurückkehren!«
Takti-Tai deutete ein Lächeln an und schüttelte den Kopf.
»Behaupte nur nicht, es gefiele dir in diesem schrecklichen Land!« platzte es erregt aus Inga heraus. »Komm! Mein Boot ist noch immer seetüchtig. Wenn es uns gelingt, damit die Brandungszone zu durchqueren und das offene Meer zu erreichen…«
Der Wind heulte über die Berge, fauchte an den Bäumen entlang und riß die Worte von Ingas Lippen. Er nickte langsam: Es war völlig unmöglich, das Boot weit genug von der Küste zu entfernen.
»Es ist nicht nur der Wind«, sagte Takti-Tai. »Wir könnten jetzt ohnehin nicht mehr zurück. Wir kennen das Geheimnis.«
Inga starrte ihn verwundert an. »Das Geheimnis? Ich weiß nicht, was du meinst…«
»Dann komm mit! Ich zeige es dir.«
Takti-Tai führte ihn durch das Dorf auf ein steinernes Gebäude mit hoher Giebelfront zu. Das Dach war mit Schiefer gedeckt. »Tritt ein und erfahr, worin das Geheimnis besteht.«
Zögernd kam Rona ta Inga der Aufforderung nach. Im Innern des Gebäudes fand er einen granitenen Tisch, und darauf lag eine reglose Gestalt, umgeben von sechs hohen und brennenden Kerzen. Inga starrte auf das eingefallene weiße Gesicht, auf das farblose Tuch, das die schmale Brust bedeckte. »Um wen handelt es sich? Einen Menschen? Wie dünn er ist! Schläft er? Und warum zeigst du ihn mir?«
»Dies ist das Geheimnis«, antwortete Takti-Tai. »Es heißt ›Tod‹.«
Originaltitel: »The Secret« Copyright © 1966 by Impulse (in »Impulse«, März 1966) Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst